Die Vorstadt


Text von Andreas Koll

 

Ab 1850 strömten massenhaft junge Menschen aus den ländlichen Umgebungen Münchens in die Stadt und überfluteten die Vorstädte Au, Giesing, Westend oder Haidhausen. Die ehemaligen Wiesen und Felder vor den Stadttoren verwandelten sich in Bauplätze von notdürftig zusammen gezimmerten Hütten und Häusern und wurden zu den am dichtesten besiedelten Gebieten weit und breit. Die Bevölkerungszahlen verdoppelten sich ständig. Plötzlich waren die meisten Münchner jung und ledig. Sie lebten als rechtlose Bewohner in den Elendsvierteln der Vorstädte, verdingten sich als Tagelöhner und hausten in Herbergen oder Mietskasernen. Es entstand eine völlig neue Bevölkerungsschicht mit eigenen Hoffnungen und Lebensweisen, verbunden durch das gemeinsame Schicksal jetzt hier in der Stadt glücklich werden zu wollen.

 

Vorstadt war weniger ein Ort als ein Zustand. Vorstadt bedeutete: Aufbruch in ein neues Leben. Jetzt musste man sich zurechtfinden, mit wenig Verdienstmöglichkeiten, einer unsicheren Existenz und schlechten Wohnverhältnissen. Jetzt hieß es mit Zuversicht in die Zukunft schauen. Doch dem Nachbarn ging es genau so wie einem selbst. Das schweißte zusammen.

 

Der Auer Mühlbach führte damals den Beinamen „Scheißbachklamm“. Rechts und links die Häuschen der Au, deren Dächer man berühren konnte, wenn man die Hand ausstreckte, dazu winzige Gärten mit verfaulten Zäunen, in denen die aufgehängte Wäsche flatterte.

 

In Bühnenfiguren wie dem »Kare«, dem »Lucki«, oder im »Stolz von der Au«, arbeits­scheu, der Halbwelt zugetan, schlau, schlagfertig und lebenslustig, fanden sich die Men­schen der Vorstadt wieder. Man stellte die Frage: »Wer sind wir jetzt?« Die zentralen Aussagen waren: »Hund samma scho!« und »Wir lassen uns nicht unterkriegen, von nichts und niemandem«.

 

»Kare und Lucki« - Sein, das bedeutete Opposition gegen jede Form bürgerlicher Moral, war Sinnbild für die Freiheit aus der Not, die Freiheit derer, die sich durchs Leben schlagen müssen, die keine Rücksicht nehmen können auf Anstand oder gesellschaftliche Konvention.

 

I bin von rechts der Isar her, in Giesing bin i z'Haus,

im schönsten Teil der Münchner Stadt, da steht mein Vaterhaus.

Mei Vater war a Maschkara, mei Muata geht in d'Wasch,

mei Bruada der fahrt Ziagelstoa, mei Schwester Equipasch,

mein Onk'l sitzt in Stadelheim, in Wasserburg mei Tant,

mei Vetta, der is hig'richt worn, wie allgemein bekannt.

A feine Blas'n samma scho Kreuzdeixl sakradi

doch's größte Frücht'l meiner Seel von alle, das bin i.

 

I bin der schöne Kare, i bin beim Heil und Litte,

beim Soller drunt im Tal, da is mei Stammlokal,

I mag a zerme Musi, an Schmai, a Bier a G'spusi,

gibt’s Schmirgl bin i mitt'n drin', weil i da Kare bin.

 

Mit diesen Zeilen identifizierte sich damals eine ganze Generation:

(Zitat aus Münchner Blut 37, August Junker: Der schöne Kare)